“Wie wichtig ist heute noch ‘Normal’? Welche Bedeutung hat ein ‘Normal’ in Zeiten, in denen das Extreme mehr und mehr zum Standard wird?” Bis hierher könnte das 1:1 aus der Predigt eines Dorfpfarrers stammen, der die Gemeinde zu Mäßigung aufrufen will. Aber keine Angst, weder will ich predigen, noch habe ich die Absicht anderen (und mir!) den Spaß an Extremen zu verderben.
Mich treibt etwas ganz anderes um: Ich habe mir vor kurzem die Frage gestellt, wie wichtig die “Normalbrennweite” (50mm am Kleinbild) für meine Arbeit in der Landschaftsfotografie ist und an diesen Überlegungen möchte ich Euch hier teilhaben lassen. Interessiert? Dann geht es jetzt los:
Die Extreme
Weitwinkel- und Teleobjektive sind anerkannte Spezialisten in ihrem jeweiligen Bereich. Sie sind hervorragende Werkzeuge für mich, wenn es z.B. darum geht, einer Landschaft Tiefe zu geben, ein besonderes Detail herauszustellen oder einfach nur ein Tier zu portraitieren ohne es dabei wesentlich zu stören. Aber diese Brennweiten sind gefährliche Verführer: Je mehr sie von dem Abweichen, was unserem natürlichen Seheindruck entspricht, je extremer sie werden, um so größer ist der Wow-Effekt beim Blick durch den Sucher und später auf das fertige Bild. Dieser Effekt verleitet einen rasch, die Bildgestaltung und das Motiv selbst zu vernachlässigen. Ganz aufgekratzt ist man zunächst von dem ungewohnten Blickwinkel. Aus dem Mittel zum Zweck wird ein Selbstzweck und irgendwann erkennt man, dass das Bild eigentlich nur aus dem Effekt besteht und darüber hinaus inhaltlich weitgehend leer ist – meist ist es dann zu spät die Aufnahme zu wiederholen. Man muss lernen damit umzugehen. Ich habe, wie jeder andere auch, mehr oder weniger viel Lehrgeld in dieser Richtung bezahlt bis ich gelernt hatte, gezielt zu den sehr kurzen oder besonders langen Brennweiten zu greifen.
Das Normale
In dieser Hinsicht viel unauffälliger, weil eher unserem natürlichen Gesichtsfeld entsprechend, ist eine Brennweite in dem Bereich um 50mm (an einer Kleinbild-Kamera). Aufnahmen, die damit entstehen, zeigen das Größenverhältnis zwischen den Elementen im Vordergrund und denen im Hintergrund in etwas so, wie wir das mit unseren Augen sehen. Eine solche Brennweite wird umgangssprachlich auch als “Normalbrennweite” bezeichnet. Aufnahmen mit dieser Brennweite profitieren also weniger von den ungewohnten Perspektiven. Es bleibt ihnen nur inhaltlich zu überzeugen, um unsere Beachtung zu finden.
In meinem Objektivpark ist die Brennweite von 50mm in einem Zoom “versteckt”, das den Bereich 24-105mm abdeckt. Nun schaue ich bei der Bildgestaltung durch den Sucher nur selten auf die Zahlen an der Brennweiten Skala. Statt dessen lasse ich mich ausschließlich durch den optischen Eindruck leiten bei der Wahl der Brennweite. Das hat zur Folge, dass ich mich bei vielen Aufnahmen nicht mehr all zu genau an die Brennweite erinnern kann. Das ist auch nicht weiter schlimm, denn meine Bilder sollen als Ganzes gefallen und nicht durch technische Aspekte dominiert werden. Trotzdem wurde diese Frage für mich wichtig und hat mich letztendlich zu diesem Blogeintrag veranlasst.
Die Frage an mich selbst
Als Ergebnis einer Unterhaltung mit meinem lieben Fotokollegen Tassilo, habe ich vor einiger Zeit begonnen gezielt darüber nachzudenken, wie wichtig diese “Normalbrennweite” nun tatsächlich für mich ist. Habe ich denn viele Motive damit fotografiert oder ist sie mir sonst in irgend einer Art und Weise wichtig? Oder ist das vielleicht eher so, dass sie überhaupt nicht auf meiner Wellenlänge liegt? Könnte ich denn ohne die 50mm auskommen, oder würde mir am Ende des Fototages etwas fehlen?
Jetzt war ich an einer wirklich spannenden Stelle angelangt: Ich hatte eine Frage an mich selbst deren Antwort ich nicht kannte!
Fragt man mich danach, ob ich wirklich meine Weitwinkel-Objektive brauche, dann sage ich sofort ‘ja!’ – ebenso bei meinen Teleobjektiven. Aber diese “Normalbrennweite”, die eher als langweilig und dröge geltenden 50mm, die dem Blickwinkel und Bildeindruck des menschlichen Auges entsprechen sollen, was ist mit denen? Brauche ich die auch?
Ich beschloss genau das herauszufinden – nicht ohne vorher noch schnell mit mir selbst zu wetten, dass ich die bestimmt nicht brauche.
Die Suche nach der Antwort
Mit der digitalen Fotografie erzeugt man wirklich eine Unmenge von Daten, nicht nur Bilddaten. Zu jedem Bild schreibt die Kamera auch die Aufnahmeparameter in die Bilddatei und man kann Jahre später noch nachschauen, mit welchen Kameraeinstellungen man eine Aufnahme gemacht hat. Eine dieser Informationen ist die verwendete Brennweite.
Da ich meine Bilder in Adobe Lightroom verwalte, war der nächste Schritt sehr einfach: Adobe Lightroom ermöglicht es mir, einen Filter zu setzen, der ausschließlich Aufnahmen anzeigt, die mit einer bestimmten Brennweite entstanden sind. Ich habe dazu nicht genau 50mm als Filterwert gewählt, sondern mich für den Brennweitenbereich 45mm bis 55mm entschieden. Schließlich wollte ich alle Aufnahmen sehen, die ungefähr in dem Bereich liegen und nicht nur die, bei denen der Zoomring zufällig genau auf der 50mm-Markierung stand.
Das erste, was ich von dem Ergebnis gesehen habe, war ein Zahlenwert: Weniger als 6% meiner Aufnahmen liegen in diesem Brennweiten-Bereich. Gerade einmal 5,7% meiner Aufnahmen entstanden mit der Normalbrennweite. Ist damit etwa die Frage beantwortet? Nein! Zum einen erstreckt sich mein nutzbarer Brennweitenbereich von 8mm bis hin zu 1.000mm und da ist das nur eine von vielen Möglichkeiten. Zum anderen ist es auch wichtig, was denn diese Bilder zeigen. Welche Motive sind es und welchen Anteil hat das Charakteristische der Normalbrennweite an diesen Motiven? Dazu blieb mir nur, die Bilder zu betrachten.
Die Antwort in den Bildern
Bereits beim ersten Überfliegen der ausgefilterten Bilder fielen mir einige Bilder auf, die ich zu den Aufnahmen zähle, die mir besonders gut gefallen. Im folgenden möchte ich ein paar davon im Hinblick auf die Charakteristika der verwendeten Brennweite besprechen.
Ein ausgewogenes Größenverhältnis zwischen Vordergrund und Hintergrund. Wir empfinden einen Blickwinkel, wie ihn unser Auge hat, als normal. Bilder, die dem entsprechen, erscheinen uns ausgewogen. Das trifft auch auf das Größenverhältnis zwischen Vordergrund und Hintergrund zu. Möchte ich beide ungefähr gleich stark im Bild vertreten haben, dann sorgt neben dem Bildausschnitt im Wesentlichen die Brennweite für den gewünschten Eindruck.
Hayden Valley, Yellowstone National Park – 47mm Brennweite
Die Aufnahme aus dem Hayden Valley lässt einerseits die Weite der Landschaft erkennen, bildet aber die entfernteren Elemente im Bild noch deutlich genug und nicht zu klein ab. Eine Aufnahme mit einem (starken) Weitwinkel-Objektiv hätte zwar den dramatischen Himmel noch stärker betont, es wäre aber gleichzeitig viel Information über die Landschaft verloren gegangen.
Silver Creek Cascades, White Mountains, New Hampshire – 45mm Brennweite
Gleiches gilt für die Aufnahme der Silver Creek Cascades: Durch das ausgewogene Verhältnis zwischen Vordergrund und Hintergrund kann der Bachverlauf so abgebildet werden, dass er zwar ein wesentlicher Bestandteil der Aufnahme ist, diese jedoch nicht dominiert. Die Tiefe wird durch die Staffelung der Bäume und Felsen erreicht.
Dadurch, dass wir einen Bildeindruck vorfinden, der weitestgehend unseren Sehgewohnheiten entspricht, wirken die Aufnahmen in diesem Brennweitenbereich oft auf eine angenehme Art und Weise ruhig.
Die moderate Gewichtung des Vordergrundes. Ein beliebtes gestalterisches Mittel, um Tiefe in eine Aufnahme zu bekommen, ist die Gewichtung des Vordergrundes. Man legt dazu den Horizont in das obere Bilddrittel. Durch diese Aufteilung wird dem Vordergrund mehr Bildanteil eingeräumt und dieser sorgt dann für die Tiefenwirkung im Bild. Bei Verwendung von Weitwinkel-Objektiven läuft man rasch Gefahr, dass Elemente im Vordergrund zu dominant erscheinen gegenüber dem restlichen Bildinhalt.
Mammoth Hot Springs, Yellowstone National Park – 47mm Brennweite
Die Aufnahme aus Mammoth Hot Springs zeigt sehr anschaulich wie durch eine Normalbrennweite der Vordergrund betont werden kann, ohne dass die Elemente im Mittelteil und im Hintergrund zu klein abgebildet werden. So entsteht zwar der Eindruck von Tiefe, es bleiben aber – ähnlich wie bei der Aufnahme aus dem Hayden Valley – viele Informationen aus den übrigen Bildteilen erhalten.
Valle Verzasca, Schweizer Tessin – 50mm Brennweite
Arbeitet man im Nahbereich, lassen sich mit der Normalbrennweite Ausschnitte herausarbeiten. Diese wirken nicht so flach, wie das der Fall ist, wenn sie mit einem Teleobjektiv aus größerer Distanz fotografiert werden. Trotzdem wird der Vordergrund nicht so abgebildet, dass er den Rest vom Bild übersteuern würde.
Die moderate Verdichtung des Hintergrundes. So, wie die Normalbrennweite mit dem Vordergrund umgeht, trifft das auch auf den Hintergrund zu, was die Verdichtung angeht. Bildet man bspw. eine Landschaft mit gestaffelten Hügelketten ab und nutzt dazu ein Teleobjektiv, dann wirken diese Hügelketten so, als würden sie sehr dicht zusammen stehen. Bei Aufnahmen, die wenig oder gar keinen Vordergrund besitzen, geht dabei jedoch ein Großteil der Tiefenwirkung verloren und die Aufnahme wirkt einfach nur flach. Hier hilft die Normalbrennweite, wenn es darum geht, zu einer sehr ausgewogenen Abbildung zu gelangen.
Pfälzerwald zum Sonnenaufgang – 50mm Brennweite
Die Abbildung betont die Hügelketten, verdichtet sie aber nicht zu sehr und unterstreicht dadurch die Tiefe im Bild. Die einzigen Elemente, die dem Betrachter Aufschluss über die Dimensionen im Bild geben können, befinden sich mit den Hügeln im unteren Fünftel des Bildes. Ähnlich wie bei einem Weitwinkel genügt der Normalbrennweite ein geringer Anteil des Bildes um die Tiefe zu betonen.
Burg Trifels zum Sonnenuntergang – 55mm Brennweite
Die Silhouette der Burg Trifels hebt sich deutlich genug vom Hintergrund ab, wirkt aber trotzdem als integraler Bestandteil der Hügellandschaft des Pfälzerwaldes.
Mein Fazit
Auch wenn der Großteil meiner Aufnahmen mit anderen Brennweiten (z.T. deutlich) außerhalb des Bereichs um 50mm entsteht, so schätze ich die Normalbrennweite doch auf Grund ihrer oben beschriebenen Eigenschaften. Würde sie mir nicht mehr zur Verfügung stehen, dann würde mir ganz klar etwas fehlen. Das ist mir durch diese Überlegungen erst richtig bewusst geworden. Danke, Tassilo, für die Anregung!
Sehr interessanter Artikel Michael! Sehr interessante Betrachtung. Ich habe mir mal den Spaß gemacht, Lightroom auch zu filtern. Ergebnis von 9640 Fotos sind 437 mit einer Brennweite zwischen 45 und 55 mm entstanden.
Gut, dabei sind nicht nur Landschaftsfotos. Dazu kommt, dass Lightrrom die Exif meines Samyang 24 1.4 als 50mm interpretiert. Dann ist die Statisktik verfälscht. Aber ich glaube, mehr als 10 % meiner Fotos sind nicht mit dem Brennweitenbereich entstanden. Es wäre hilfreich gewesen, wenn Du den Leser noch anhand eines Screenshots gezeigt hättest, wie man Lightroom dazu bringt, diese Informationen auszuspucken.
Liebe Grüße
Raik
Hallo Michael, ein wunderbarer Beitrag, der zum nachdenken anregt. Beim zoomen macht man sich wirklich deutlich weniger Gedanken über die Brennweite. Mit einer Festbrennweite so loszuziehen ist da wiederum eine andere Herausforderung. Diese wirst Du sicherlich auch meistern und faszinierende Ergebnisse zeigen. Ich bin da sehr gespannt.
Hi Michael, ein sehr interessanter Post/Bericht ist das geworden. Weiter so!